Zivilisatorischer Rückschritt mit Ansage in Tübingen: Frauen* zurück an den Herd

Die Kürzungen der Öffnungszeiten der Kinderkrippen und Kindergärten in Tübingen haben vielfältige Auswirkungen. Offenbar wurde schon lange vor dieser Entwicklung gewarnt, was die Verantwortlichen jedoch ignorierten.

Hunderte von Eltern, Erzieher*innen und Kindern demonstrierten in Tübingen gegen die Kürzungen – der Marktplatz ist voll.

Tübingen beschießt massive Öffnungszeit-Kürzungen der KiTas (also Krippen UND Kindergärten) aus Mangel an Erzieher*innen – obwohl der Gesamtelternbeirat und Sachverständige seit Jahren vor dieser Situation warnen – die Hälfte der Tübinger Kindergärten und -Krippen schießen nun um 13:30 – dadurch müssen viele angehende Erzieher*innen ihre Ausbildung abbrechen – die Kindertageseinrichtungen in der Nähe von Amazon und MPI dagegen sollen weiterhin bis zum Abend geöffnet haben – ehemalige Bürgermeisterkandidatin warnt seit Jahren vor dieser Entwicklung

Die Kürzungen lösen einen selbstverstärkenden Effekt aus: Viele angehende Erzieher*innen brechen ihre Ausbildung ab, weil sie sich nun um ihre eigenen Kinder kümmern müssen. Für KI-Forscher*innen dagegen wird gesorgt, dafür setzt sich Oberbürgermeister Boris Palmer ein. Er begründet das mit dem Wirtschaftsstandort, und wertet damit erneut die absolut notwendige Arbeit der Pflege und Erziehung von Menschen ab, gegenüber der Entwicklung von – meist vor allem für kommerzielle und herrschaftliche Zwecke nützlichen – Technologie.

„Seit Jahren weist der Gesamtelternbeirat und die freien Träger die Stadtverwaltung darauf hin, dass Tübingen auf einen Betreuungsnotstand zuläuft. Nun ist es soweit. Personalengpässe und Krankheitsstände führen dazu, dass Einrichtungen ihre Betreuungszeiten kürzen müssen. Das hat erhebliche Folgen. Eltern sind gezwungen ihren Arbeitsumfang zu reduzieren, um die Kinderbetreuung zu übernehmen oder müssen unter Umständen sogar ihre Elternzeit verlängern.‟ So die ehem. Bürgermeisterkandidatin Ulrike Baumgärnter auf ihrer Homepage. Und „Eltern‟ heißt leider immernoch meistens „Mütter‟. Alleinerziehende haben es besonders schwer. Auch wer zugezogen ist, und keine Großeltern in der Nähe hat, ist benachteiligt.

Zivilisatorischer Rückschritt

Die Entscheidung des Tübinger Gemeinderats heißt für viele leider: Frauen* zurück an den Herd, Familie statt Beruf oder Berufung. Für Alleinerziehende bedeutet das oft ein Leben in Armut und Knappheit.

Ob linke Eltern es sinnvoller finden, ihre Kinder selbst zu betreuen oder nicht, tut zu diesem Skandal nichts zur Sache, denn die Möglichkeit sollte doch jeder Elternteil haben. Wer viele verschiedene Menschen kennt, weiß dass viele und vor allem ärmere Eltern auf diese soziale Infrastruktur angewiesen sind. Vor allem aber nicht nur Konservative Eltern, die viel Wert auf Familienleben legen und weniger auf öffentliches und gesellschaftliches Leben, ziehen es vor die Kinder zumindest die ersten 3 Jahre zuhause zu erziehen – dabei wird die Aufgabe sich um die Kinder zu kümmern meistens der Mutter zugeschoben, während der Vater sich weiterhin um Karriere, öffentliches Leben, Politik, Hobbies und Freunde kümmern kann.

Auf Kindergärten verzichten aber selbst die konservativsten Eltern meistens nicht mehr. Gut betuchte Haushalte können es sich leisten, dass ein Elternteil den ganzen nötigen finanziellen Hintergrund einbringt, während der andere Elternteil (was bei den gängigen heterosexuellen Paaren dann meistens immernoch die Frau* bzw. weiblich sozialisierte Person ist) sich um die Kinder kümmert und einen kleinen Zusatzjob macht – mehr ist bei der aktuellen Kürzung auch kaum möglich: Wer das Pech hat, seine Kinder dort zu haben wo um 13:30 bereits Schluss gemacht wird, brauch einen Arbeitsweg von unter 20 Minuten um einen 50% Job übernehmen zu können.

Aber bei ärmeren Familien, bei Menschen mit weniger formalisierter Ausbildung, daher also bei vielen Eltern mit Migrationshintergrund, müssen beide Elternteile Geld verdienen, um die hohen Lebenskosten in der Region stemmen zu können. Die Kürzungen bringen diese Familien sowie Alleinerziehende in enorme Bedrängnis und führen entweder zu wirklich ärmlichen Lebensverhältnissen oder zu Vernachlässigung der Kinder. Dies betrifft auch Alleinerziehende, die sich nicht auf Hilfe von Großeltern oder Freunden stützen können. Deshalb sind die Kürzungen kein legitimer Umgang mit dem Notstand, sondern ein zivilisatorischer Rückschritt.

*Frauen: Die Pflegearbeit oder Care-Arbeit übernimmt bei heterosexuellen Paaren meistens der weiblich sozialisierte Elternteil. Während Männer* eher auf Härte, kühles Berechnen und Konkurrenz sozialisiert werden, sollen Frauen* öfters empathisch sein, was beim Umgang mit Kindern nötig ist. Heute sind glücklicherweise nicht mehr immer nur Frauen*, die sich um die gesellschaftlich abgewertete Pflege von Kindern, Alten und Kranken kümmern, aber in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle hat sich da besonders hier im Süd-Westen zu wenig verändert.

Wir fordern daher: Rücknahme der Kürzungen, Aufwertung der Care-Arbeit im Allgemeinen und der Kindererziehung im Besonderen. Mehr freie Tage, mehr Selbstbestimmung und Arbeitszeitverkürzung für Erzieher*innen bei vollem Lohnausgleich! So kann dieser stressige und körperlich anstrengende Beruf attraktiver gemacht werden.

Für diese und andere Ziele setzt sich z.B. das linke, bundesweite Netzwerk Care-Revolution ein.