Links ist nicht Woke – Die zentralen Unterschiede

Viele von uns reiben sich immer öfter an öffentlichen Akteur*innen, die durch die ‚woke‘ Bewegung beeinflusst sind. Diese behauptet, soziale Gerechtigkeit anzustreben, aber vertritt oft Ideen, die ihrer Sache zuwiderlaufen. Mein Gast heute bei LEAN OUT WITH TARA argumentiert, dass diese Dynamik besonders lebenslange Linke verwirrend ist, wenn sie sehen wie die so genannte „woke left“ zentrale linke Grundsätze ablehnt, wie die Bejahung des Universalismus gegenüber dem Tribalismus, die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und den Glauben an die Möglichkeit von Fortschritt.

Susan Neiman ist eine anerkannte Philosophin sowie kulturelle und politische Kommentatorin. Sie ist Direktorin des Einstein Forums in Deutschland und Autorin des neuen Buches „Left Is Not Woke“. Darin schreibt sie: „Wir bemerken selten welche Annahmen heute in die Kultur eingebettet werden, denn sie werden normalerweise als selbstverständliche Wahrheiten ausgedrückt. Es ist schwer sie direkt in Frage zu stellen, weil sie einfach als Beschreibungen der Realität präsentiert werden und nicht als Ideen, die wir in Frage stellen könnten.“

„Universalismus ist einfach die Idee, dass es jenseits aller Unterschiede in Kultur, Geschichte und Äußerlichkeiten, die wichtig sind – niemand würde bestreiten, dass sie kulturell wichtig sind -, aber jenseits all dessen einen Kern von Menschlichkeit gibt, der uns alle miteinander verbindet.“

In diesem Gespräch, das gestern in Toronto anlässlich des offiziellen Erscheinungstermins des Buches aufgezeichnet wurde, packt Neiman die Annahmen aus, die dem „Great Awokening“ zugrunde liegen, denkt über die Lähmung durch Pessimismus nach und betont, dass Hoffnung eine moralische Verpflichtung ist.

TH: Das Buch geht auf einen Vortrag zurück, den Sie an der Universität Cambridge gehalten haben. Wie kam es dazu, dass Sie in Cambridge, das oft als eine Bastion dieser Politik angesehen wird, einen Vortrag über „Woke“-Politik hielten?

SN: Das ist in der Tat so. Ich wurde eingeladen, eine hochkarätige Vorlesung zu halten, die Tanner Lecture. Sie können über alles reden, was Sie wollen. Ich hatte etwa ein Jahr lang Gespräche mit vielen Freunden in verschiedenen Ländern geführt, die sich alle über Phänomene beklagten, die ich in meinem Buch bespreche, und zu dem Schluss kamen: „Ich glaube, ich bin nicht mehr links.“ Mein Gefühl war: „Nein, Moment mal, ich werde den Begriff „links“ nicht an irgendjemanden abtreten. Ich bin mein ganzes Leben lang links gewesen und ihr auch“ – sagte ich zu den Freunden – „sie sind es, die nicht wirklich links sind.“

Ich beschloss, den Vortrag als Gelegenheit zu nutzen, um zu versuchen, die Fragen nach dem, was woke und was links ist, zu klären. Ich dachte mir, wenn man mich mit Tomaten bewirft, ist das in Ordnung; ich war eingeladen, zu tun, was ich wollte. Zu meiner großen Überraschung hat nicht nur niemand protestiert, sondern es gab auch eine Menge Begeisterung für den Vortrag. Die Leute sagten, sie hätten schon viele rechte Kritiken an Woke gehört, aber nichts von der Linken. Dann trat ein Verleger an mich heran und fragte mich, ob ich den Vortrag zu einem Buch ausbauen wolle. Ich dachte: „Wenn es dazu beitragen kann, einige dieser Fragen zu klären und die Leute zu überzeugen, werde ich meinen Sommer dafür opfern.“

TH: Ich persönlich finde es ziemlich verwirrend, zu verstehen, was [in der „woken“ Politik] vor sich geht. Lassen Sie uns zunächst einen Moment auf das Jahr 2020 eingehen, auf die Unruhen nach dem Mord an George Floyd. Ich fand diese, wie Sie auch, anfangs recht hoffnungsvoll. Es handelte sich um eine große hautfarblich-gemischte Koalition, um einige der größten Proteste in der amerikanischen Geschichte, und es gab eine Ablehnung der Art von Gewalt, die zu diesem Moment führte. (Ich habe meine Karriere im Hip-Hop begonnen; ich habe meine 20er Jahre damit verbracht, mit Männern zusammenzusitzen, deren Leben durch das Strafrechtssystem zutiefst geprägt worden war.) Und doch hat sich, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, mit Black Lives Matter irgendwann im Jahr 2020 etwas verändert. Was hat sich Ihrer Meinung nach durch diese Bewegung verändert?

SN: Es ist sehr schwer zu sagen, wer zuerst damit angefangen hat. Aber ab einem bestimmten Punkt war es vielleicht die Rechte, die anfing zu sagen: „Das ist Identitätspolitik“. Und es gibt Studien darüber, dass in den ersten Tagen der Black-Lives-Matter-Bewegung mehr Weiße als Schwarze auf der Straße waren. Wir sollten nicht vergessen, dass dies mitten in einer weltweiten Pandemie geschah, gegen die es noch keine Impfungen gab. Die Menschen riskierten also eine Menge, um für Black Lives Matter zu demonstrieren. Es war extrem kraftvoll, extrem bewegend und extrem gemischt was die Hautfarbe angeht. Und irgendwann im August begann die Rechte zu sagen: „Nein, das ist Identitätspolitik, und das ist ein Problem.“

Was in den letzten Jahren so verwirrend war, mit der so genannten ‚woken Linken‘, ist, dass diese Idee traditionell der Linken gehörte – der Universalismus. Und es waren traditionell die Rechten, die darauf bestanden, dass wir nur tiefe Verbindungen und echte Verpflichtungen gegenüber Menschen haben, die aus unserer Sippe stammen. Das war schon immer eine rechte Gesinnung.

Wahrscheinlich als Reaktion darauf – ich bin mir nicht ganz sicher -, aber wahrscheinlich als Reaktion darauf, begannen die Leute, die Black Lives Matter anführten, auch zu sagen: „Ja, dies ist eine Bewegung für und von Farbigen. Und weiße Menschen können, wenn sie wollen, Verbündete sein.“ Das Wort Verbündeter erschien mir außerordentlich problematisch. Ich bin kein Verbündeter von Black Lives Matter. Ich unterstütze Black Lives Matter, weil ich mich grundsätzlich für Menschenrechtsverletzungen interessiere, und die Ermordung von unbewaffneten Menschen durch die Polizei ist eine Menschenrechtsverletzung.

Ich verwende gerne das Beispiel, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs für kurze Zeit Verbündete waren, weil sie ein gemeinsames Interesse hatten. Nicht, weil sie gemeinsame Prinzipien hatten. Sobald diese Interessen auseinandergingen, war es mit dem Bündnis vorbei, wie das bei Bündnissen oft der Fall ist. Aber sobald man anfängt, eine Bewegung in die Hauptakteure und die Verbündeten zu unterteilen, untergräbt man die tiefe Solidarität, die die Linke braucht.

TH: Mich hat auch die Religiosität gestört. Es war eine Art Inbrunst dabei. Und es gab einige giftige Ideen zum Thema Hautfarbe, die Sie in diesem Buch meiner Meinung nach sehr gut auspacken. Man hatte das Gefühl, den Universalismus aufzugeben und sich dem Stammesdenken zu verschreiben. Ich habe Sie sagen hören: „Wir können uns Tribalismus nicht leisten.“ Erzählen Sie mir, woher diese Abkehr von der Universalität kommt.

SN: Man kann viele Einflüsse erkennen, die dazu beigetragen haben. Irgendwie wurde der Universalismus mit dem Scheinuniversalismus verwechselt, und in den letzten Jahren kam die Behauptung auf, dass der Universalismus ein Trick der weißen Europäer sei, um alle anderen in der Welt davon zu überzeugen, ihre Werte zu übernehmen und sie universell zu nennen. Ich kenne eine ganze Reihe farbiger Menschen, die an der Vorstellung, sie müssten die universalistischen Werte der Europäer übernehmen, großen Anstoß nehmen. Es gibt viele Strömungen in Denk- und Aktionsbewegungen in der ganzen Welt, die sich auf den Universalismus berufen.

Universalismus ist einfach die Idee, dass es jenseits aller Unterschiede in Kultur, Geschichte und Äußerlichkeiten, die wichtig sind – niemand würde bestreiten, dass sie kulturell wichtig sind -, aber jenseits all dessen einen Kern von Menschlichkeit gibt, der uns alle miteinander verbindet. Nun ist die Menschheit, oder die Menschheit, wie immer man sie nennen will, in gewissem Sinne kein natürlicher Begriff. Es ist etwas, das im 18. Jahrhundert entstanden ist, als die Menschen begannen, anzuerkennen, dass jedem Menschen eine menschliche Würde zukommt

Ich sehe es als einen normativen Begriff. Es ist nicht etwas, das man unbedingt erkennen kann, wenn man Menschen ansieht. Menschen sehen anders aus, sie haben eine andere Geschichte, sie haben eine andere Kultur – und es gibt keinen Grund, sich nicht für sie zu interessieren und sie kulturell zu respektieren. Aber was uns politisch verbindet, sind die grundlegenden Forderungen nach Menschenwürde und Menschenrechten.

TH: Meinen Sie die Linke?

SN: Nein, das, was uns alle als menschliche Wesen zusammenhält. Was in den letzten Jahren so verwirrend war, mit der so genannten „woken Linken“, ist, dass diese Idee traditionell der Linken gehörte – der Universalismus. Und es waren traditionell die Rechten, die darauf bestanden, dass wir nur tiefe Verbindungen und echte Verpflichtungen gegenüber Menschen haben, die aus unserer Sippe stammen (=Tribalismus, anm.d.Übers.). Das war schon immer eine rechte Gesinnung.

Es war ein Akt des Fortschritts, als die Menschen der Aufklärung sagten: „Nein, jenseits von Stammesloyalitäten und Clanverwandtschaften ist es wichtig, ein Mensch zu sein und Anspruch auf Menschenrechte zu erheben.“ Das war immer ein linker Anspruch. Und plötzlich wird das als Betrug angesehen – nicht plötzlich, das hat sich natürlich schon seit einigen Jahren aufgebaut. Aber es hat sich durchgesetzt, dass die Idee der Universalität eine Mogelpackung ist.

Das Verwirrende an diesen Diskussionen ist, dass es eine Reihe von Annahmen gibt, die selten klar ausgesprochen werden, aber sie werden vorausgesetzt. Wenn also jemand von Black Lives Matter sagt: „Dies ist eine von Schwarzen geführte Bewegung, ihr könnt Verbündete sein, wenn ihr wollt“, dann heißt das nicht unbedingt: „Das Einzige, was wirklich zählt, sind Stammesbande.“ Niemand würde das einfach so sagen, aber es wird vorausgesetzt. Und diese Art von Annahmen stören die echte linke Solidarität.

TH: Und wir sehen, dass dies in die DEI-Bewegung (DEI steht für Diversity, Equity und Inclusion, Anm.d.Übers.) einfließt, wo wir jetzt Affinitätsgruppen haben. Es hat eine große Reichweite, denke ich … Das ist also die Idee von Universalismus und Tribalismus. Die zweite Säule Ihres Buches ist diese Sichtweise von Gerechtigkeit und Macht. Einer der Theoretiker, über den Sie hier sprechen, ist Michel Foucault, der in der so genannten woken Linken sehr beliebt ist. Erläutern Sie mir Ihre Hauptkritik an dem, was die Leute aus seinem Werk übernehmen.

SN: Nun, eigentlich untergräbt Foucault alle drei Annahmen, die meiner Meinung nach für die Linke entscheidend sind. Die eine ist die Vorstellung von Universalismus und Tribalismus. Es geht nicht darum, dass er ein Tribalist ist, sondern darum, dass er glaubt, dass die gesamte Idee der Menschheit oder des Menschen konstruiert wurde und verschwinden wird – wie er in seinem, ich glaube es war sein erstes Buch, Die Ordnung der Dinge, bekanntlich sagt. Ich würde der Behauptung zustimmen, dass sie konstruiert ist, aber ich denke, sie ist eine Errungenschaft. Viele Errungenschaften sind konstruiert; sie sind nicht offensichtlich und nicht natürlich.

Die zweite Annahme, die er untergräbt, ist die Vorstellung, dass man eine klare Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht treffen kann. Noch einmal: Die Behauptung, dass Gerechtigkeit nur ein Täuschungsmanöver ist, um Machtansprüche zu verschleiern, geht bis zu den athenischen Sophisten im 5. Jahrhundert v. Chr. zurück. Und natürlich gibt es in der Geschichte viele Beispiele dafür, dass Ansprüche auf Gerechtigkeit oder Tugend tatsächlich dazu benutzt wurden, Machtansprüche zu verschleiern.

Sehen Sie sich den Irak-Krieg an. Bushs Behauptungen, er wolle dem Nahen Osten die Demokratie bringen, waren für die meisten von uns ganz offensichtlich nur dazu gedacht, sein Streben nach Hegemonie in der Region zu verschleiern. Außerdem wollte er die Menschen von dem ablenken, was damals als die schlechteste Präsidentschaft in der amerikanischen Geschichte angesehen wurde; wir konnten uns nicht vorstellen, dass es noch schlimmer werden könnte. Es war klar, dass seine Behauptungen, er würde in den Krieg ziehen, um die Demokratie im Nahen Osten zu verbreiten, in Wirklichkeit ein Betrug waren. Aber aus der Tatsache, dass sich hinter dem Anspruch auf Gerechtigkeit oft ein Machtanspruch verbirgt, folgt nicht, dass jeder einzelne Anspruch auf Gerechtigkeit [ein Betrug] ist. Wenn man links ist, glaubt man, dass es prinzipiell möglich ist, zwischen diesen beiden zu unterscheiden.

Foucault tut das nicht. Foucault ist jemand, der wie die athenischen Sophisten des 5. Jahrhunderts zu dem Schluss kommt, dass wir es aufgeben sollten, diese Unterscheidung zu treffen, nur weil sich bestimmte Versuche, Gerechtigkeitsansprüche zu etablieren, als Tarnung für Machtansprüche herausgestellt haben.

Das ist ein einfaches Argument. Man kann sehen, wie man zu diesem Schluss kommen könnte. Ich meine, wenn man von vielen Menschen enttäuscht worden ist, die einen über das, was sie wirklich bewegt hat, getäuscht haben, ist es leicht zu sagen: „Okay, jeder ist nur auf sein eigenes Interesse und seine eigene Macht aus.“ Das ist natürlich etwas, das in der heutigen Kultur durch die Evolutionspsychologie verstärkt wird, die ich auch in meinem Buch bespreche. Das scheint diesen Ideen von Foucault und anderen eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Das ist sie aber nicht. Aber es klingt wissenschaftlich.

Das dritte Problem mit Foucault besteht darin, dass er einen weiteren absolut entscheidenden Grundsatz der Linken untergräbt, nämlich dass es möglich ist, Fortschritte zu machen. Fortschritt ist nicht unvermeidlich, aber er ist möglich. Ich glaube, hier sind die Woken oft ziemlich verwirrt. Denn es gibt viele Aktivist*innen, die sich eindeutig für den Fortschritt einsetzen, was die Ungleichheiten bei Einkommen, Race und Gender angeht. Aber indem sie sich weigern anzuerkennen, dass es in der Vergangenheit Fortschritte gegeben hat, untergraben sie ihre eigene Sache.

Foucault hat sich bekanntlich – und das war ein brillanter Schachzug – für die Abschaffung der Folter eingesetzt, die eine der ersten Ursachen der Aufklärung war. Und in seinem wohl meistgelesenen Buch, Überwachen und Strafen, beginnt er mit der Geschichte von jemandem, der versuchte, König Ludwig XV. zu töten und auf einem öffentlichen Platz in Paris gevierteilt wurde. Beim Lesen dieser Beschreibung schaudert man, aber man vergisst sie auch nicht. Dann fährt er fort: „Als wir aufhörten, Menschen zu köpfen und zu vierteilen, sah das wie ein Fortschritt aus.“ Aber dann argumentiert er, dass die heutigen Gefängnisse in Wirklichkeit eine subtilere, aber verheerendere Form der Überwachung und Kontrolle sind. Und das kann man in gewisser Weise sehen. Es ist eine hypnotisch überzeugende Art von Argument.

Foucault sagt nie: „Deshalb wäre es besser, gevierteilt zu werden, als eingesperrt zu sein“. Denn einer der Tricks von Foucault – der an alle möglichen Theoretiker*innen, die sich kritisch nennen, weitergegeben wurde – ist, dass man keine normativen Aussagen macht. Man sagt einfach: „Ich beschreibe nur, wie die Dinge sind“. Aber die normative Implikation ist sehr klar. Und die Leute gehen mit dem Gedanken weg: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich gevierteilt werden möchte, aber ich habe keine Hoffnung, ein Strafrechtssystem zu reformieren. Denn alles, was ich zu tun versuche, würde die Dinge nur noch schlimmer machen.“ Das Gleiche gilt für alle möglichen anderen Versuche, Fortschritte zu erzielen. Auch hier vereinfache ich ein wenig. Aber nur ein wenig.

TH: Das hat eine lähmende Wirkung. Aber auch der damit einhergehende Pessimismus ist eine unschöne politische Vision.

SN: Auf jeden Fall. Übrigens wurde mir erst vor ein paar Tagen gesagt: obwohl Foucault der meistgelesene Theoretiker der postkolonialen Studien ist, glaubte kein Geringerer als Edward Said, dass er ein Quietist sei und eine lähmende Wirkung auf die befreienden Absichten der Linken habe.

TH: Lassen Sie uns einen Moment auf Carl Schmitt eingehen. Das ist ein erstaunlicher Punkt. Wie kommt es, dass die Linke die Theorien eines echten Nazis aufgreift?

SN: Schmitt war nicht nur ein echter Nazi, er war ein unapologetischer Nazi, der bis ans Ende seiner Tage glaubte, dass er im Recht war, und der gerne seine freie Zeit in Francos Spanien verbrachte. Das ist jemand, der sich nie entschuldigt hat. Er entschuldigte sich nicht nur nie, sondern unterstützte den Faschismus bis ans Ende seiner Tage.

Es gibt nur eine Erklärung dafür, warum Menschen auf der Linken, oder der liberalen Linken, Schmitt verlockend fanden. Es ist, weil er über die Heuchelei liberaler Institutionen spricht. Zunächst einmal beschreibt er das Parlament als eine schwache und sinnlose Debattiergesellschaft. Und sicherlich können diejenigen von uns, die sich mit Parlamenten befasst haben, diese Kritik manchmal verstehen. Aber noch wichtiger ist, dass er über die Heuchelei Großbritanniens spricht, das von sich behauptet, demokratisch zu sein, während es in Wirklichkeit ein großes Imperium unterhält, das seiner Meinung nach auf einfacher Piraterie beruht. Oder die Vereinigten Staaten und ihre Monroe-Doktrin (bezeichnet die Ausbeutung Lateinamerikas durch die USA, Anm.d.Übers.). Nun, er hat völlig Recht, dass sowohl das britische Empire als auch die Monroe-Doktrin Akte einfacher Piraterie sind. Behauptungen über den Erhalt von Demokratie, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung aufzustellen, während man diese Imperien oder Quasi-Imperien im Falle der Vereinigten Staaten aufrechterhält, ist ein monumentaler Akt der Heuchelei.

Aber die Leute bemerken selten, wann [seine Behauptungen] datiert wurden – es ist 1942. Er unterstützt die Nazis, die sich zu diesem Zeitpunkt im Krieg mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten befinden. Schmitt ist kein Antikolonialist. Er sagt: „Eure Behauptungen, besser zu sein als wir, sind heuchlerisch, also können wir weitermachen und ganz Osteuropa kolonisieren, wenn wir wollen. Es gibt nichts Schlimmeres in unseren Handlungen als in euren.“ Das ist übrigens etwas, was Hitler selbst behauptet hat. Er sprach über den Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern durch europäische Kolonisten im 18. und 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten und rechtfertigte damit wiederum seinen Wunsch, ganz Europa zu kolonisieren.

Kultur ist Aneignung. Ich kann auch sagen, dass die Idee der kulturellen Aneignung die Idee der Kultur völlig untergräbt. […] Offensichtlich gibt es kulturelle Ausbeutung. Ich spreche nicht von Leuten, die die Musik oder Kleidung anderer stehlen und viel Geld damit verdienen, während die ursprünglichen Schöpfer verarmt sind.

Dies ist eine ziemlich kindische Antwort auf moralische und politische Kritik: „Na ja, alle tun es, warum kann ich es nicht auch tun?“ Es ist keine ernsthafte Dekonstruktion des Anspruchs auf ein Imperium. Aber seltsamerweise haben die Leute es [überzeugend] gefunden. Ich nehme an, sie denken, dass es realistisch ist, oder dass sie denken, dass es ein harter Schnitt ist. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass genug darüber nachgedacht wurde, warum genau Schmitt für bestimmte Leute auf der Linken so attraktiv ist.

Es gibt ein ganzes Bündel von Kräften, die ich versucht habe, in dem Buch zu beschreiben, wenn auch nur kurz. Die wichtigsten, die ich herausgegriffen habe, waren Foucault, Schmitt und die Evolutionspsychologie, die alle dazu neigen, dieselben ziemlich zynischen Ansichten darüber zu vertreten, was Menschen zum Handeln antreibt.

TH: Ein weiteres Thema, das ich ansprechen wollte, war die Idee der kulturellen Aneignung, die in diesem Land ein großes Diskussionsthema ist und manchmal sogar auf die Esskultur ausgeweitet wurde. Für mich persönlich war das verheerend, denn auf meinen Reisen ist Essen eine der Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt zu treten, andere Kulturen zu erkunden und eine Verbindung zu ihnen aufzubauen. Sprechen Sie mit mir über Ihre Ansichten zur kulturellen Aneignung.

SN: Ich kann einen Freund von mir zitieren, der sagt: „Kultur ist Aneignung“. Ich kann auch sagen, dass die Idee der kulturellen Aneignung die Idee der Kultur völlig untergräbt. Kultur ist nicht etwas, das man besitzt. Sie ist fast immer das Ergebnis einer Kombination von Einflüssen aus allen möglichen Bereichen. Und die Kraft der Kultur besteht darin, dass sie uns einen Einblick in das Leben und die Traditionen anderer Menschen ermöglicht. Als die Leute anfingen, über kulturelle Aneignung zu sprechen, habe ich versucht, die andere Seite zu verstehen, wie ich es normalerweise tue. Aber am Ende war ich sehr wütend über die Vorstellung, dass die Kultur zu einem bestimmten Stamm gehört. Denn nur wenn wir versuchen, Teile anderer Kulturen zu verstehen, können wir die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der anderen verstehen.

„Wir leben in einer völlig unvernünftigen sozialen und wirtschaftlichen Struktur, keine Frage. In den verschiedenen Ländern gibt es unterschiedliche Grade der Unvernunft. Nach meiner eigenen Erfahrung sind die Vereinigten Staaten am verrücktesten. Ich meine, zutiefst verrückt in so vielerlei Hinsicht. Westeuropa hingegen ist ein bisschen vernünftiger.“

Offensichtlich gibt es kulturelle Ausbeutung. Ich spreche nicht von Leuten, die die Musik oder Kleidung anderer stehlen und viel Geld damit verdienen, während die ursprünglichen Schöpfer verarmt sind. Wir wissen, dass das bei der schwarzen Musik in den Vereinigten Staaten durchaus passiert ist. Aber was die Leute vergessen, ist, dass es ein Triumph war, als schwarze Musik begann, im Mainstream-Radio gespielt zu werden. Früher war das nicht möglich. Früher konnte man das nicht hören – erst Jazz, und dann wurde Jazz zum Mainstream – aber Blues, Gospel, Soul, das wurde als „Rassenmusik“ bezeichnet, als ich aufwuchs. Und es war eine Errungenschaft, als die Leute sagten: „Nein, das ist nicht nur Musik für Afroamerikaner*innen, das ist ein Teil der us-amerikanischen Kultur.“ Oder, wenn man so will, der internationalen Kultur. „Das ist etwas, das wir alle schätzen können.“

Ich denke, ich habe versucht zu verstehen, warum jemand darauf besteht, dass Kultur Stammeskultur ist, und am Ende habe ich das Gefühl, dass ich das überhaupt nicht verstehe. Es steht im Widerspruch zum Zweck der Kultur, die uns, wie Sie sagten, helfen soll, Kontakte zu knüpfen (damit ist natürlich auch der Kontakt zu Mitgliedern „unserer“ jeweils „eigenen“ Kultur gemeint, Anm.d.Übers.), sei es durch Essen, Musik, Literatur oder Film. Sich mit anderen Menschen zu verbinden. Dadurch erhalten wir einen Einblick in das Leben anderer Menschen und können auch unsere eigenen kulturellen Annahmen hinterfragen, wenn wir nur aus einer Kultur stammen.

Ich möchte noch einmal davor warnen, zu glauben, dass man eine Kultur wirklich nur oberflächlich verstehen kann. Ich meine, um wirklich zu versuchen, sich in der Kultur eines „anderen Volkes“ zurechtzufinden, muss man mehr tun, als nur ein Stück Essen oder ein Stück Musik zu probieren, oder etwas, das nicht aus der eigenen Kultur stammt. Ich bin sicher, dass Sie mir da zustimmen. Und es ist unmöglich, dass wir Zugang zu allen verschiedenen Kulturen der Welt haben können. Aber ich würde jeder*m empfehlen, es auszuprobieren. Man kann sie zufällig auswählen, das spielt fast keine Rolle. Aber es ist auf jeden Fall besser, wenn man sich eine aussuchen kann, die in einer anderen Sprache als der eigenen Muttersprache funktioniert, denn das macht einen großen Unterschied. Wenn man so viel wie möglich in eine andere Kultur eintaucht, lernt man nicht nur die menschliche Vielfalt, sondern auch die Einheit kennen.

TH: Ich möchte ein paar Minuten auf die Hoffnung eingehen. Pessimismus ist in der Linken im Moment sehr verbreitet.

SN: Ich muss zunächst einmal sagen, dass ich kein Optimist bin. Ich denke, es wäre obszön, in diesem Moment der Geschichte optimistisch zu sein, wo wir von so vielen realen Gefahren bedroht sind, die uns zu Fall bringen könnten, von einem Anstieg des Faschismus in vielen Ländern bis hin zur Klimakrise.

Es ist einfacher, seine Pronomen zu ändern, als tief unterdrückende Strukturen zu verändern. Aber wenn wir nicht daran arbeiten, diese Strukturen zu ändern, werden wir weiterhin einige der Menschen entfremden, die dadurch am meisten verletzt werden.

Optimismus und Pessimismus sind Vorhersagen darüber, was in der Zukunft passieren wird. Ich mache keine Vorhersagen über das, was passieren wird. Aber ich behaupte, dass, wenn wir dem Pessimismus nachgeben, das Schlimmste passieren wird. Denn die einzige Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern, besteht darin, die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass wir durch Zusammenarbeit das Schlimmste tatsächlich abwenden und die Dinge verbessern können. Das ist ein Argument, das auf Kant zurückgeht. Es ist ein Argument, das auch Noam Chomsky vertritt. Es ist wirklich einfach. Es ist einfach: Es gibt keine große Wahl, wenn man dem Pessimismus nachgibt, kommen wir alle in die Hölle.

TH: Zum Schluss möchte ich noch über die Arbeiterklasse sprechen. An einigen Stellen des Buches stellen Sie fest, dass die Bevölkerung von der neoliberalen Wirtschaft, vom neoliberalen Denken verwüstet wurde. Und es gibt eine gewisse Wut, die in einigen Fällen eine erwartete Reaktion auf das ist, womit jeder zu kämpfen hat. Und dennoch gibt es in der Linken eine Sichtweise auf die Arbeiterklasse, die mir in den letzten Jahren häufig begegnet ist – eine Art Pauschalisierung der gesamten Arbeiterklasse in diese Schublade der „Bedauernswerten“. Eine Verachtung für arbeitende Menschen und eine Ungeduld mit ihren Weltanschauungen. Was halten Sie davon?

SN: Wir leben in einer völlig unvernünftigen sozialen und wirtschaftlichen Struktur, keine Frage. In den verschiedenen Ländern gibt es unterschiedliche Grade der Unvernunft. Nach meiner eigenen Erfahrung sind die Vereinigten Staaten am verrücktesten. Ich meine, zutiefst verrückt in so vielerlei Hinsicht. Westeuropa hingegen ist ein bisschen vernünftiger. Hier gibt es eine Reihe sozialdemokratischer Strukturen, in denen Arbeitsrechte als Rechte angesehen werden. Die Gesundheitsfürsorge wird als ein Recht angesehen, und Bildung ist nicht einfach eine Leistung oder ein Privileg, das denjenigen zusteht, die es sich leisten können.

Ich halte die Wut der Arbeiterklasse in der Tat für eine vernünftige Reaktion auf ein völlig unvernünftiges System. Aber Leute wie Donald Trump und andere wissen genau, wie sie das instrumentalisieren können. Was wir in der Linken tun müssen – und das war ein Grund, dieses Buch zu schreiben – ist, uns auf die Teile der Unvernunft zu konzentrieren, die tatsächlich verändert werden könnten, wenn wir uns darauf konzentrieren würden. Und nicht auf die Art von Tugendhaftigkeit, die oft eine Reaktion der Woken ist, die die Menschen verrückt macht. Es ist einfacher, seine Pronomen zu ändern, als tief unterdrückende Strukturen zu verändern. Aber wenn wir nicht daran arbeiten, diese Strukturen zu ändern, werden wir weiterhin einige der Menschen entfremden, die dadurch am meisten verletzt werden. Damit will ich nicht sagen, dass es einfach ist. Denn natürlich ist Rassismus in verschiedenen Formen eine häufige Reaktion, wenn Menschen sich missbraucht und unterdrückt fühlen. Ich bestreite also nicht, dass Menschen aus der Arbeiterklasse bedauerliche Dinge tun und sagen können, keine Frage. Aber herauszufinden, wie man die wirklichen Quellen der Wut erreichen kann, ist meiner Meinung nach die erste Aufgabe der Linken heute.

TH: Sind Sie zuversichtlich, dass die Linke einige Fortschritte macht, wenn es darum geht, die Linke von diesem eher extremistischen Element innerhalb der Linken zurückzuerobern?

SN: Ich betrachte Hoffnung nicht als ein Gefühl, sondern als eine moralische Verpflichtung. Ich muss hoffnungsvoll sein, um weiter handeln zu können. Ich hoffe, dass die ersten Reaktionen auf mein Buch – die sehr, sehr positiv waren, und die Leute sagten, dass es Fragen aufgeworfen hat, die sie selbst über die Beziehung zwischen den „Woken“ und der Linken hatten – ich hoffe, dass das nützlich sein wird, um den Leuten zu helfen, weiterzukommen.

Deshalb habe ich es geschrieben. Noch einmal: Ich will nicht behaupten, dass ich nicht auch Momente echter Verzweiflung habe. Ich habe sie. Wir leben in einer erschreckenden Welt. Aber wenn ich der Verzweiflung nachgebe, kann ich absolut nichts tun, um etwas zu ändern.

Dies ist die deutsche Übersetzung des Interviews mit der us-amerikanischen Berliner Philosophin Susan Neiman mit der Journalistin Tara Henley, erschienen am 29.März 2023 auf Lean Out with Tara Henley (link). Unterstützt wurde die Übersetzung vom Deepl. Das Interview wurde im Original durch die autorin und Interviewerin gekürzt und bearbeitet.