Der Diskurs um Kulturelle Aneignung hat es in die Mainstream-Medien „geschafft“. Angefangen hatte es mit Fridays For Future Hannover, die die weiße Musikerin Ronja Maltzahn zu einem Konzern ein- und dann wieder ausgeladen hatten. FFF Hannover argumentierte wenig überzeugend mit Verweis auf einen mit Fehlinformationen durchsetzten Artikel auf Maedchenmannschaft.net. Im Mainstream wird der Diskurs aber stark auch vom rechts stehenden Springer-Verlang thematisiert, wahrscheinlich weil er sich besonders gut dazu eignet, „linke“ Ideen lächerlich zu machen. Wenn „kulturelle Aneignung“ kritisch gemeint ist, dann kulturwissenschaftlich gesehen der Aspekt „kulturelle Ausbeutung“, nicht etwa andere Formen kultureller Aneignung wie die unvermeidlichen und unumstrittenen kulturellen Austausch. Hier soll mit einem Blick auf die Geschichte der Dreadlocks eine These vertreten werden: Dreadlocks, getragen von Menschen jeglicher Hautfarbe, sind kulturelle Elemente, die viel eher den Austausch und die Solidarität ausdrücken, denn als Ausbeutung zu wirken.
Zu den Begrifen: In diesem Artikel verwende ich die Hautfarbenbezeichnung weiß und Schwarz im Sinne des Diskurses der Black Liberation. Schwarz (mit einem großen S, gemäß der Selbstbezeichnung) steht dunklere Hautfarben, die ihren Herkunftsschwerpunkt in Subsahara-Afrika, in der Südsee und Australien haben, oft mit Stolz (Black ist Beautiful) getragen werden, besonderem (dem antischwarzem) Rassismus ausgesetzt sind und sich in bedeutenden sozialen Bewegungen (Black Liberation, Black Power, Black Lives Matter) gezeigt haben. Weiß steht hier für helle Hautfarben mit Herkunftsschwerpunkt Europa/Nordasien. Wegen der historischen Bedeutung der Bewegungen, um die es in diesem Text auch geht, u.a. der Rastafaris, verwende ich hier nicht die Bezeichnung PoC (People of Color) oder BIPoC (Black Indigenous People of Color), welche auch andere von Rassismus betroffene Hautfarben meint (die Mehrheit der Menschheit hat weder sehr helle noch sehr dunkle Haut, wird damit in multikulturellen Gesellschaften weder als weiß noch als Schwarz gelesen). Aus Respekt der Rastafari-Bewegung gegenüber verzichte ich auf Bezeichnungen „Rastafarianismus“ oder „Rastafarianism“, weil Rastafarians geschlossene Ideologien ablehnen („there is no ism and no schism“) und auch nicht als homogene Bewegung bezeichnet werden können. Hier soll nicht geleugnet werden, dass es auch Kritisches an dieser Bewegung gibt, wie die teils der Bibel, teils dem Hinduismus entlehnten patriarchalen Elemente oder dass die auf Jamaika verbreitete Homophobie auch von einigen Rastas vertreten und religiös begründet wird.
Was ist mit kulturelle Aneignung gemeint?
Die These hinter der kulturellen Ausbeutung ist die, dass unterdrückte Kulturen nicht nur materiell sondern auch kulturell ausgebeutet werden, und einzelne Akteure von anderen Kulturen profitieren, den Communities die die Kultur erschaffen aber nicht an diesem Profit teilhaben lassen. Das kann an Beispielen wie der Benennung von SUVs oder Militärgerät nach indigenen Stämmen aufgezeigt werden, (Cherokee, Tuareg, Apache), der vermarkten indigener Kunst durch weiße Künstler*innen in Australien und vieles mehr.
Das Konzept an sich enthält schon die Idee, dass geistiges Eigentum geschützt sein sollte, welches daher für Linke eher fragwürdig ist, wohingegen aber auch im Sinne des Minderheitenschutzes agumentiert werden kann, dass solange diese Idee in der Gesellschaft in gewisser Weise durchgesetzt wird, das auch gegenüber Minderheiten getan werden muss.
Um das Für und Wider des Konzeptes der kulturellen Aneignung braucht es aber hier auch gar nicht gehen, denn selbst innerhalb dieses Konzeptes, können Dreadlocks, so lange sie nicht von einem Teil des Establishments getragen werden, nicht als Teil kultureller Ausbeutung gelten; warum das so ist, wird im folgenden dargelegt.
Entgegen der im Kern schon problematischen Idee kulturelle Elemente (z.B. Frisuren) biologischen Kategorien (z.B. Hautfarbe) zuzuordnen und diese Zuordnung erzwingen zu wollen, macht es aber vielleicht Sinn die Frage nach der Entwertung von Symbolen zu stellen, wenn diese aus dem Kontext gerissen werden: Eine Frisur kann eine Aussage haben, die entwertet wird, wenn sie in großer Zahl z.B. mit dem Gegenteil verbunden wird. Dafür stellt sich die Frage: Welche Symbolik haben Dreadlocks und wer darf sie demnach tragen?
Wo kommen Dreads her und wem gehören sie?
Der erste Grund, warum die als Dreadlocks bezeichneten Filzlocken keine kulturelle Ausbeutung bedeuten, ist dass die Idee sich die Haare verfilzen zu lassen niemandem gehört: Im Laufe der Geschichte haben verschiedenste Bevölkerungsgruppen Filzlocken getragen, von den Wikingern, über die königstreuen Dänen im 17. Jahrhundert, über Native Americans vom Stamm der Cree bis zu den heutigen Sadhus. Auf Wikipedia findet sich eine längere Liste und Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Filzlockenträger*innen.
Wer dünne Haare hat, auch als weiße*r Europäer*in, bekommt von alleine Filzlocken, wenn sie nicht regelmäßig gekämmt und mit Schampoo gewaschen werden. Die Kunst und die einzige Arbeit daran ist dann nur, zu verhindern, dass es ein einziger riesiger Filzblock wird, also die Filzstränen, bis sie sich stabilisiert haben, voneinander immer wieder auseinander zu trennen.
Manche (z.b. Maimouna Jah vom Magazin RosaMag) kritisieren daher bei den Dreads weniger die Frisur selbst, sondern dies nur, wenn sie auch als „Dread Locks“ (engl. Furcht Locken) bezeichnet werden. Diese Bezeichnung haben die Rastafarians der 1940er in Jamaika dieser Frisur gegeben, welche die Anhänger dieser Überzeugung im Westen Kingstons trugen, wohingegen die Rastas im Osten der Stadt bei ihren, derzeit auf Jamaika üblichen, Kurzhaarfrisuren blieben. Als sie mit dieser Frisur experimentiert haben, hatten sie das Gefühl dass die restlichen Kingstoner*innen Angst vor ihnen hatten, daher der Name „Furcht Locken“. Rastafari ist eine Religion, eine Bewegung und eine Subkultur die in den 1930ern von Loenard Percival Howell auf Jamaika gegründet wurde, und die sich stark an den indischen Einwanderer*innen in Jamaika inspirieren lassen hat: Sie übernahmen das Marihuana (hind. Ganja) rauchen zu rituellen Zwecken, die Dreadlocks der indischen Sadhus und die Idee eine irdische Königsfigur zum Gott zu ernennen. Howell bekämpfte die von geringem Selbstwert geprägte, unterwürfige Mentalität der meisten seiner Schwarzen Mitjamaikaner*innen, die trotz beendeter Sklaverei 1850 im zu England gehörenden Jamaika häufig den weißen britischen König George V verehrten. Um den Selbstwert als Schwarze zu steigern erklärte Howell den Kaiser von Äthiopien Haile Selassi, der vor seiner Krönung unter seinem Fürstennamen Ras Tafari Makonnen bekannt war, zum Kaiser der Schwarzen.
Da er aus der Erfahrung seiner Reisen nach New York und Panama und seine Verküpfung zu Akteuren der Black Liberation und panafrikanischen Bewegungen, und in der Kenntnis dessen Marxismus wusste, dass eine erfolgreiche Bewegung eine materielle Basis braucht, gründete er eine riesige Kommune names Pinnacle, in dem 4500 Frauen, Männer und Kinder aus den Ghettos (Shanty Town genannt) jamaikanischer Städte zogen, um ein besseres Leben zu beginnen. Nach der Zerschlagung des Pinnacle durch Staat und Polizei breitete sich die Rastafari-Bewegung durch die in die Ghettos von Kingston geflohenen ehemaligen Kommunard*innen aus.
Howell war Kosmopolit, seine Bewegung sollte die schwarze Bevölkerung stärken und die allgemeine Menschenwürde durchsetzen. Es ging nie um Abwertung oder Ausgrenzung weißer oder asiatischer Bevölkerungsteile (Menschen aus Indien und China sind die größten Minderheiten auf Jamaika), sondern um einen Widerstand gegen Rassismus, Staat und Kolonialismus und das sofortige bessere Leben in Würde, Gleichberechtigung, Frieden und im Einklang mit der Natur.
Heute ist Rastafari eine internationale Subkultur, ein wenig ähnlich dem Punk und seine Anhänger*innen haben weltweit sofort eine gemeinsame Basis, auf der sie sich austauschen können. Sie wird über Reggae-Musik verbreitet, da viele vor allem jamaikanische Reggae-Künstler*innen sich mit Rastafari identifizieren. Dass diese Schwarze Bewegung und ihre Inhalte auf Weiße und Menschen anderer Hautfarben übergeht, kann als Erfolg gewertet werden, solange (wie über die Musik) tatsächliche Inhalte weitergetragen werden und nicht nur Kiffer-Klischees (wie es in kommerziellen Medien leider immer wieder der Fall ist) bedient werden. Rastafari steht für Stärkung der Schwarzen und Afrikas, für Gleichberechtigung und ökonomische Beteiligung aller Menschen, Friede, Kampf gegen ausbeuterische Institutionen und Kommerz. Es ist wahr, dass Gläubige Rastafaris den damaligen äthiopischen Kaiser mehr oder weniger als Gott verehren, was nach keinerlei linker Anknüpfungspunkte klingt, aber mensch muss sich bewusst machen, dass das Erstarken einer Schwarzen, verarmten, ausgebeuteten, kolonisierten und oft sehr gläubigen Bevölkerung mit wenig Zugang zu formalisierter Bildung damit ein neues Selbstvertrauen gegeben werden konnte – und das teilweise heute noch kann. Der intellektuelle Black Liberation Aktivist Marcus Garvey, der als Führer der Schwarzen Befreiungsorganisation UNIA einen eher intellektuellen marxistischen und panafrikanisch Ansatz hatte, hatte weniger Erfolg mit seinen Bemühungen die Massen zu erreichen, wird aber durch Howells Zutun von den Rastas auch in vielen Reggae-Liedern als Prophet verehrt.
Es gab und gibt in der internationalen Schwarzenbewegung auch immer wieder Gruppen, die tatsächlich einen schwarzen Nationalismus propagierten, der unter universalistischen Standpunkten als ein Rassismus gegenüber Weißen angesehen werden kann, da er nicht nur die Legitimität der Organisationen der von Rassismus Betroffenen unter sich vertrat, sondern allgemein für eine Segretation von Schwarzen und anderen Hautfarben und teilweise sogar für eine Schwarze Überlegenheit sich einsetzte . Dazu zählt ein Zweig der Rastafarians die sich Nyabinghi nennen, oder die Nation of Islam (NOI) in den USA, die tatsächlich eine „Black Supremacy“ vertraten. Wenn die Symbole dieser Gruppen von Nicht-Schwarzen genutzt werden würden, wäre der Vorwurf der Entwertung der Symbole nachvollziehbar, allerdings waren Dreadslocks in der NOI nicht üblich und die Nyabinghi trugen wie andere Rastafarians Dreadlocks oder auch nicht.
Bei Reisen in der ganzen Welt aber auch im Alltag Europa sind Dreadlocks meist ein Erkennungsmerkmal für Anhänger*innen und Sympathisant*innen der Rastafari-Bewegung. Die Solidarisierung mit antikolonialen Kämpfen macht Dreadslocks besonders in der Linken populär, was gute Gründe hat: Die Mau Mau Bewegung, welche in Kenia sehr militant die Befreiung vom kolonialen Regime erkämpfte, trug lange Dreadlocks, schon vor den Rastafarians. Bob Marley gilt als der erste international bekannte Star aus einem Dritte-Welt-Land und er machte drei nicht unbedingt zusammengehörende Elemente, Reggae, Dreadlocks und Rastafari, weltweit populär. Aber auch in den 90ern trugen antikapitalistische Vorbilder Dreadlocks, wie der (jüdisch- und irisch-stämmige) Sänger von ‚Rage againt the Machine‘, Zack de la Rocha, um ihre Ablehnung gegenüber dem rassistischen, imperialen Kapitalismus auszudrücken. Ein anderer prominenter Dread-Träger ist der 1981 in den USA inhaftierte Schwarze Revolutionär Mumia Abu Jamal, um den eine globale Solidaritätsbewegung entstand, auch hier im deutschsprachigen Raum, die ihn zwar vor der Hinrichtung retten konnte, aber ihn nicht aus dem Gefängnis befreien.
Dreadlocks gehören demnach sowohl indischen Sadhus, Rastafarians und Sympathisant*innen, verschiedenen Bewegungen und Kulturzweigen auf der Welt, als auch der globalen linken Widerstands- und Alternativkultur.
Dreadlocks als weltweit verbindendes Element
Ähnliche wie der Iro oder das Nietenhalsband von Punks sind Dreads international als Symbol und Signal für eine bestimmte Geisteshaltung zu verstehen und als Möglichkeit in Kontakt zu treten. Vor allem für den Kontakt zwischen stark segrigierten Bevölkerungsteilen wie mittelschichts Weiße und gesellschaftlich ausgegrenzte Refugees spielen solche Symbole eine große Rolle! Auch der Kontakt zu gambianischen Refugees – da Gambia als das Jamaika Afrikas gilt, werden Dreads dort überdurchschnittlich viel getragen und Reggaemusik ist dort populärer als in den meisten afrikanischen Ländern – wird durch Dreadlocks stark erleichtert. Zu keinem Moment wurde mir je von afrikanischen Migrant*innen oder Refugees vermittelt, es sei nicht okay als Weiße*r Dreadlocks zu tragen – im Gegenteil, wurde es mir stehts positiv als Kontaktaufnahme und Respekt gegenüber schwarzen Vorbildern ausgelegt.
Von manchen akademisierten Schwarzen Deutschen aus einigen Metropolen wird das anders vermittelt. Eine sachlich logische Begründung wurde aber nie angeführt; es werden stehts bloß ein von halb-wahren Fakten gespickter Artikel auf Mädchenmannschaft.net verlinkt und Noah Sow zitiert, dass sie keine Lust habe, Weißen zu ihren Dreadlocks zu gratulieren (was ihr auch vergönnt sei).
Die Art der Argumente legen den Verdacht nahe, dass diese Position wie auch sonst beim akademisierten Identitätsdiskurs, ob nun durch akademisierte weiße oder akademisierte nicht-weiße (BIPoC) Aktivist*innen, vor allem mit provokanten kulturbezogene Forderungen gegenüber Verbündeten hervorsticht als durch durchdachte linke oder antirassistische Überlegungen. Da passt der Aufruf keine Dreadlocks zu tragen genauso dazu, wie keine indischen Bindis, Tätowierungen oder gedehnte Ohrlöcher, oder eben dass Menschen ausgeschlossen werden dürfen, wenn sie sprachlich nicht korrekt mit Geschlechtsidentitäten umgehen (können!?). Das ist vergleichsweise leicht in kleinen Filterblasen durchzusetzen und hat mehr provokantes Potential welche eine größere Öffentlichkeit erreicht (welches aber leider vor allem durch Springpresse oder noch weiter rechts stehenden Medien ausgenutzt wird), aber hat wenig mit den langfristig wirksamen, gesellschaftlichen Forderung breiterer, antirassistischer oder Black Power Bewegung zu tun, die sich gegen Polizeigewalt und Racial Profiling, rechtliche Gleichstellung und Recht auf Migration, Gleichberechtigung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und soziale Forderungen einsetzen. Dazu im speziellen natürlich gerne eine Diskussion in den Kommentaren wie zum Text im allgemeinen.
Rassismus und Dreadlocks
Häufig wird Weißen die Dreads tragen vorgeworfen, sie würden „den Schwarzen“ die Frisur klauen, ohne den damit verbundenen Rassismus erleben zu müssen. Dem sind besonders folgende 3 Punkte entgegen zu halten:
1. In den meisten afrikanischen Ländern sind Dreads durch das Establishment ebenso selten und umstritten wie in Europa. Die Reggae-Künstlerin Queen Fyah erzählt in einem Interview (https://www.mzansireggae.co.za/queen-fyah-a-legend-in-the-making/), wie sie als Lehrerin in ihrem Heimatland Malawi fast ihren Job verloren hat, weil sie Dreads trägt. Bei Reisen in Botswana und Ghana erlebte ich, wie Dreads auch dort das Erkennungsmerkmal der wenigen Rastas oder zumindest Reggaefans ist, und von der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft ähnlich selten getragen wurden wie in Europa.
Wenn es also um kulturelle Aneignung als AUsbeutung ginge, dann wäre der Fall nicht der, dass Weiße die Frisur von Schwarzen sich aneigneten, sondern der, dass alle Menschen aller Hautfarben, die nicht Haile Selassi verehren, (die nicht nach eigenen Traditionen Filzlocken tragen) sich die Frisur einiger Rastafarians (nicht aller!) aneignen. Die Frisur entstammt aber der Rastafa-Bewegung, spielt da aber keine integrale Rolle (wie der wohl bekannteste afrikanische Reggae-Sänger Alpha Blondy betont „il est pas neccessaire d’avoir Dreadlocks pour etre un Rasta“, also: Es ist nicht nötig Dreadlocks zu tragen, um ein Rasta zu sein), sondern ist eher eines ihrer Symbole mit der Natur und nicht gegen sie zu leben, wie es das koloniale „Babylon System“ erzwingt. Trotz intensiver Beschäftigung mit Rastafari, Reggae und der jamaikanischen Sprache Patwa, ist mir noch nie ein Hinweis darauf untergekommen, dass es nicht gern sehen wäre, wenn Weiße sich Rastafari zuwenden, geschweige denn dass Dreadlocks exklusiv den Rastas gehören würden oder es auf Ablehnung stieße, wenn Weiße Dreads trügen.
2. Wenn Leute Dreads bei Schwarzen als „eklig empfinden“ oder sonst irgendwie abwerten und bei Weißen nicht, dann ist das einfacher ein stumpfer Rassismus der Beurteilenden und hat nichts mit den Personen zu tun, die diese Dreads tragen. Ich kann nichts dafür, dass Rassist*innen mich vielleicht schöner finden, wenn ich hellere Haut habe als wenn ich dunklere habe, und ohnehin will ich, wie wohl alle Linken, von solchen Leuten auch gar nicht schön gefunden werden oder sonst was mit ihnen zu tun haben. Und Rassist*innen die weiße Menschen schöner finden als Schwarze, werden das unabhängig von der Frisur, zumal in den allermeisten Fällen Rassist*innen auch die als „Schwarze Frisur“ wahrgenommenen Dreadlocks oder sogar Locken allgemein eher noch unschöner finden als glatte Haare.
3. Es ist einfach nicht wahr, dass weiße Dreadlockträger*innen nicht auch eine Form von kulturellen Rassismus in den meisten Regionen Deutschlands erfahren: In ländlicheren und konservativen Gebieten spüren auch weiße Dreadlockträger*innen den weißen rassistischen Hass gegenüber kulturellen Abweichler*innen und müssen Diskriminierungen durch die Mehrheitsgesellschaft in Kauf nehmen, weil Dreadlocks als „Schwarze Frisur“ wahrgenommen werden und vom (konservativen und faschistischen) weißen Ideal der glatten Haare enorm abweichen. Das fängt mit Pöbeleien auf der Straße an, geht über Ausschluss bei Schule und Beruf weiter und kann auch in körperlicher Gewalt durch Rechte oder Faschist*innen enden. Für Rassist*innen und Faschist*innen werden weiße, deutsche Zecken und „Multikultis“ oft ähnlich abgewertet, bedroht und mit Gewalt konfrontiert wie Menschen die sie als „Ausländer*innen“ oder „Fremde“ wahrnehmen.
Weiße, die Dreadlocks tragen machen sich also stückweit selbst zu Opfern von Rassismus, normalisieren damit auch die als afrikanisch wahrgenommene Frisur, also eine als „das Andere“ definierte Kulturform. Rassist*innen wie auch viele Andere nehmen weiße Dreadlockträger*innen nicht zu unrecht oft als Verbündete von Refugees wahr. Je mehr Weiße sich über kulturelle Elemtente den rasstisch Diskriminierten anschließen, desto mehr Gegenwind spüren Rassist*innen. Rassist*innen fühlen sich meistens dann Mutig, wenn sie in der Mehrheit sind und eine kleine Minderheit diskriminieren, sich über die Frisur selbst zum Teil einer Minderheit zu machen (wie auch mit dem Iro) zeigt ihnen deutlich, dass die Minderheit nicht alleine ist.
Aus antirassistischer Erwägung finde ich daher, sollten sowohl Dreads als auch Iro alles andere als „kulturelle Aneignung als Ausbeutung“, sondern als Solidarisierung mit Ausgeschlossenen und rassistisch Diskriminierten auch durch Linke gewertet werden.
Antirassistischer, antikolonialer Kampf statt völkischer Idee der Verknüpfung von Hautfarbe und Kultur
Der Diskurs der das Tragen der Dreadlocks bei Weißen als „kulturelle Aneignung“ verurteilt enthält eine gefährlich-rechte Idee: Wer welche Kultur ausüben darf, ist mit dessen Hautfarbe fest verbunden. Diese Idee von „Völkern“ die durch körperliche und kulturelle Merkmale abgegrenzt werden könnten, ist in der Aufarbeitung des Nationalsozialimus immer mehr überwunden worden, zumal sie schon in den 1920ern wissenschaftlich als veraltet galt.
Dass jetzt ausgerechnet akademisierte Linke diese Idee wieder ausgraben, verheißt nichts gutes. Offenbar geben Linke immer mehr den Kampf gegen die materielle Ausbeutung des globalen Süden auf, welche mithilfe von rassistischen Vorstellungen durch moderne kapitalistische Unternehmen und reiche Staaten weiter vorangetrieben wird: Durch Freihandelsabkommen der EU mit einzelnen ärmeren Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika werden diese Länder daran gehindert, sich ökonomisch zu entwickeln. Dabei werden die Menschen in den ärmeren Ländern ausgebeutet, ihre Arbeitskraft ist dort sehr günstig und ihre Bedürfnisse unterdrückt um Rohstoffe abzubauen. Menschen die durch diese globale Ausbeutung durch Flucht nach Europa oder in andere reichere Länder entkommen wollen werden zu Tausenden an den Grenzen quasi-militärisch abgehalten und nicht selten getötet. Wer es doch schafft wird über Staatsangehörigkeit und Hautfarbe durch Behörden, Vermieter*innen, Arbeitgeber*innen und Polizei auch hier noch ausgebeutet, ausgegrenzt und unterdrückt.
Wenn sich aber einzelne Regierungen ärmerer Länder dagegen wehren, werden sie mit Kriegslügen verunglimpft und militärisch bekämpft, wie zuletzt Libyen, welches bei aller Kritik an Ghaddafi ein Hoffnungsträger für ganz Subsahara-Afrika darstellte (in diesem Fall ist die Propganda derart Stark, dass sogar innerhalb der Linken die Gegeninformation mau ist, wobei die Kriegsgründe inzwischen als Lügen enttarnt sind; Quelle: https://www.imi-online.de/2015/02/03/libyen-clintons-kriegsluegen/).
Gegen diese globale kapitalistisch-rassistische Herrschaft müssen wir gemeinsam mit Betroffenen kämpfen. Sich wegen der Frisuren gegeneinander aufzuwigeln bringt nur der rassistischen Mehrheitsgesellschaft, rechten Akteuren und der neo-kolonialen, kapitalistischen Herrschaft etwas. Unser Kampf kann aus solidarischem Handel, globaler Vernetzung, Proteste gegen kolonialistische Denkmäler und Straßennamen, gegen Polizeigewalt und Racial Profiling, Aufklärung und Blockaden gegen Großkonzernen und Regierungen, aus konkreter Vernetzung mit BIPoC und Refugees und vielem mehr bestehen.
Die Frage ist eher: Darf sich eine weiße Person, die rassistische Politik betreibt, Dreads tragen, also ganz entgegen der Symbolik der Frisur? Darf ein*e Banker*in oder ein*e Konservative*r einen Iro tragen?
Ich denke dass diese Symbole deshalb noch immer so starke Symbole sind, weil die jeweiligen Gegenpole aus eigener ästhetischer Überlegung heraus sie nicht entwerten, sondern Konservative von sich auch lieber „ordentliche“ Haare tragen und Rassist*innen lieber „europäische“ oder gar „faschistische“ Frisuren.
Auf sachliche Kommentare, Erfahrungen, Eindrücke, Argumente und Diskussionsbeiträge freuen wir uns. Troll-Posts mit unsachlich empörten Beiträgen, die die Diskussion nicht weiterbringen, werden gelöscht.
Quellen: u.a. Hélène Lee: Der erste Rasta. 2000; 15 Jahre langes Leben und Reisen mit Dreadlocks in Europa und Afrika; vielfältiger Austausch mit Refugees vor allem aus Gambia und Ghana.